Chiaro Scuro

Marco lässt die Haustüre hinter sich zufallen. Sie hängt etwas schief in den Angeln. Sein Vater, ein beliebter, aber erfolgloser Kaufmann, hatte das einst beträchtliche Vermögen der Familie auf diesen heruntergekommenen, um nicht zu sagen untergehenden Palazzo reduziert. Das Haus wirkt von der Wasserseite, als hielte es sich mühsam an den Nachbarmauern aufrecht.

Marco zieht gehend einen Tunnel durch den dichten Februarnebel. Er wendet sich in Richtung Fondamente Nuove, auf und ab über Brücken, hin und her um Ecken, durch Sottopassegi, beschreibt einen Weg am Stadtplan in seinem Kopf.

Auf einer kleinen Brücke über den Rio del Gozzi bleibt er stehen, starrt ins bleierne Wasser. Ein klarer Gedanke ist nicht in Sicht, ebenso wenig die Sonne. Er könnte nicht sagen wo sie jetzt steht.

Er hatte Valentina vor zwanzig Jahren an der Universität Ca’Foscari  kennengelernt. Sie, die nicht aus Venedig, nicht einmal aus dem gleichen Sprachraum kam und er, der Verwurzelte, verstanden sich sofort. Beim zweiten Rendezvous waren sie ineinander gefallen und seit damals zusammen geblieben. Nein, Kinder hatten sie keine bekommen, es hatte sich nicht ergeben. Obwohl er nicht hätte sagen können zu welchem Zeitpunkt die eigene Familie von einer Nebensächlichkeit, einer diffusen Zukunftshoffnung, zu einer versäumten Möglichkeit geworden war.

Da war so viel Alltag gewesen, der alles ausfüllte, einen Überdruck im eigenen, kleinen Leben erzeugte, den Atem nahm. Die Tage waren wie Fassaden, die in sich zusammenfielen, nahm man nur kurz den Blick von ihnen.

Ich bin die Kugel einer Rube-Goldberg Maschine. Hinter mir all die mühsam aufgebauten Effekte abgebrannt. Vor mir ein unabsehbares Weiterfallen.

Ein tief durchs Wasser pflügender Lastenkahn unter ihm schreckt ihn auf. Der offene Bauch, hoch gefüllt mit Hausrat, behelfsmäßig mit Plastikfolie bedeckt. Eine neue Chance auf der Terraferma? Eine Verlassenschaft? Ein Geschäft? Ein Verbrechen?

Er dreht sich nach links, nimmt sein Telefonino aus der Manteltasche und lässt es knapp hinter dem Boot ins Kielwasser fallen. Ich bin frei.

Es ist Zeit zu Luigi in die Buchhandlung „Acqua Alta“ zu gehen. Marco fischt sich dort die „Unsichtbaren Städte“ aus einer aufgebockten Badewanne. Beim Bezahlen reicht er dem Besitzer erstmals die Hand, streicht einer der Katzen sanft über Kopf und Rücken, sie will sich schmiegen, doch er schon über der Schwelle.

Bei Bendetto setzt er sich an den wackeligen Holztisch vor der Rösterei und nippt am Espresso. Er zündet sich eine Muratti an, das lässt der Wirt seinen Stammgästen aus dem Sestiere durchgehen.
Klamm ist ihm, aber da ist nichts zu wollen, rauchen und frieren, nicht rauchen, nicht frieren, rauchen und frieren, trotten die Gedanken durch seinen Kopf.
Den Kohlefilter dreht er mit der Schuhsohle in den feuchten Pflasterstein.

An den Fondamente Nouve wartet er am schwankenden Anleger auf die Linie 4-1. Als der Vaporetto knarzend anlegt und die Stange klirrend aufgeschoben wird, tritt er über und setzt sich ins muffige Abteil. Den Kopf seitlich an die Scheibe gelehnt, vertreiben ihm die Motorvibrationen die Restgedanken. Viel ist nicht zu sehen durch die angelaufenen Fenster im anhaltenden Nebel dahinter.

An der Ferrovia steigt er aus und geht in Richtung Calatravabrücke. Auf dem langgezogenen abfallenden Schwung über den Canale Grande hat er den ankommenden Pendlern auszuweichen. Die sind auf dem Weg zu Andenkenläden, Lokalen, den verbliebenen Geschäften. Und Touristen. Dabei rutscht er aus und schlägt sich den rechten Knöchel an den Stufen. Ein dumpfer, feuchter Schmerz. Egal jetzt, weiter.

Beim Überqueren der Piazzale Roma hat er Mühe nicht von einem der unzähligen Busse überrollt zu werden. Nahe der Bahn- und Autobrücke zum Festland, der „Ponte della Libertà“ – ha! – steigt er rechts ein paar Stufen hinab und betritt die Questura. Als der Polizist, den er aus glasigen Augen angestarrtt, sich endlich vom Telefon trennt, kann Marco seine Aussage machen: „Ich habe sie umgebracht!“.

Durch den sich lichtenden Nebel, durch das schmutzige Fenster, dringt ein einzelner Sonnenstrahl ins Souterrain. Mehr zu fühlen als zu sehen.

Nur ein paar hundert Meter weiter, im jetzt glitzernden Wasser unter der Brücke versinkt Marcos Handy vibrierend im Schlick. Die letzte SMS: „In Bahia scheint immer die Sonne.“

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